Übersicht
Vorwort: Landkarte für Gestalter
Einleitung: Organisation verstehen und stärken
1. Fähigkeiten der Organisation wahrnehmen und bewerten
1.1 Verhältnisse statt Personen fokussieren
1.2 Organisationale Fähigkeiten beobachten und besprechen
1.3 Fünf Hauptfähigkeiten vitaler Organisationen
2. Veränderungsideen entwickeln und umsetzen
2.1 Problemverständnis vertiefen
2.2 Veränderungsideen entwickeln
2.3 Veränderungsideen verproben
2.4 Umgang mit Frameworks und Methoden
3. Reflexion und Verankerung der Erkenntnisse
Fazit: Plädoyer für ein systematisches und pragmatisches Vorgehen
Vorwort: Landkarte für Gestalter
Dieser Artikel wendet sich an Unternehmer, Führungskräfte, Organisationsentwickler und alle anderen, die leistungsstarke und anpassungsfähige Organisationen gestalten wollen. Trotz der Länge des Artikels handelt es sich um eine kompakte Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte. Er kann Dir hoffentlich als Landkarte Orientierung bieten und Deine Neugier zur Vertiefung wecken.
Einleitung: Organisation verstehen und stärken
Jeder Mensch hat die Aufgabe, sich selbst zu führen. Dazu gehört, sich selbst und seine Umwelt wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen und für sein Leben hilfreiche Bedingungen zu schaffen. Im Management nennen wir das Selbstführung. Daneben gibt es im Management noch die Mitarbeiterführung und die Teamführung. Das sind alles etablierte Aufgaben für Führungskräfte.
Und dann gibt es noch die ominöse „Organisation“. Die braucht ebenfalls Führung bzw. Gestaltung. Aber was ist eine Organisation? Für manche ist das nur ein anderer Begriff fürs Organigramm oder für die formale Prozesslandschaft. Für andere ist das die Summe aller Mitarbeiter und Teams. Beide Sichtweisen sind wenig nützlich, will man eine erfolgreiche Organisation gestalten.
Es gibt unterschiedliche Verständnisse davon, was eine Organisation ist, und die lassen sich auch begründen. Will man aber eine vitale Organisation schaffen oder pflegen, hat sich folgende Sichtweise als besonders praktisch und nützlich erwiesen: Eine Organisation ist ein Netzwerk von Entscheidungen.
Es beginnt mit der Entscheidung, die Organisation zu gründen und damit, ihren Zweck zu bestimmen. Dann folgen Entscheidungen über Mitgliedschaften, zum Beispiel das Einstellen von Mitarbeitern. Dann Entscheidungen über Leistungsangebote und Kundenansprachen. Das Netzwerk spinnt sich mit jeder noch so kleinen, alltäglichen Entscheidung weiter und nimmt dabei auf seine Vergangenheit Bezug. Die Organisation reduziert Unsicherheit und stabilisiert das Erwartbare. Gleichzeitig entwickelt eine Organisation dank der unzähligen Wechselwirkungen ungeplante Eigenheiten und Dysfunktionalitäten.
Will man eine Organisation stärken, muss man Einflussmöglichkeiten auf das Entscheiden finden. Was eine Organisation zu leisten vermag (z.B. Effizienz, Geschwindigkeit, Qualität, Innovation, Strategieumsetzung) hängt unmittelbar an der Fähigkeit, die passenden Entscheidungen zu treffen. Dazu stellen sich drei zentrale Aufgaben.
- Fähigkeiten der Organisation wahrnehmen und bewerten
- Veränderungsideen entwickeln und umsetzen
- Erkenntnisse reflektieren und verankern
Man könnte das Vorgehen kleinschrittiger und detaillierter beschreiben. Das würde aber diesen Artikel sprengen. Daher fasse ich im Folgenden die drei Schritte kompakt und pragmatisch zusammen.
1. Fähigkeiten der Organisation wahrnehmen und bewerten
1.1 Verhältnisse statt Personen fokussieren
In Organisationen wird meist über die Fähigkeit und Leistung von individuellen Mitarbeitern oder Teams gesprochen. Gerne in Verbindung mit messbaren oder gut beobachtbaren Ergebnissen. Dann fallen so Sätze wie: „Unser Sales Team hat im letzten Quartal abgeliefert! 15% über Plan!“ Oder: „Die Techniker haben das Unmögliche geschafft und das Projekt beim Kunden in letzter Minute gerettet. Das sind starke Kollegen!“ Oder auch: „Kein Wunder, dass die Kunden unzufrieden sind. Den Kollegen im Service kann man ja bei der Arbeit die Schuhe besohlen!“
Solchen Aussagen wohnt in der Regel eine Grundüberzeugung inne: Am Ende liegt es an den Leuten, ob wir erfolgreich sind oder nicht. Natürlich können Hochleistungs-Teams über sich, und damit die einzelnen Mitglieder, hinauswachsen. Und doch neigt unser Hirn am Ende dazu, die Fähigkeiten und Leistungen wieder einzelnen Personen zuzuschreiben.
In unseren Köpfen gibt es eine Schnellstraße zwischen dem beobachteten Verhalten einer Person und der Zuschreibung, dass die Person das Verhalten zeigt, weil die Person halt so ist. Ihr Verhalten entspricht etwas in der Person, das wir nicht beobachten können, sondern nur vermuten. Das können Werte, Charaktereigenschaften, Motive, Bedürfnisse oder die aktuelle Gestimmtheit sein.
Schnell sind wir uns sicher: Das Verhalten des Gegenübers liegt an bzw. in der Person selbst. Letztlich geht die Frage zurück auf die ultimative Ur-Frage: Freund oder Feind? Als Menschen sollten wir besser schnell in der Lage sein, vom Verhalten des fremden Gegenübers auf seine Motive zu schließen. Und im Zweifel ist es fürs Überleben günstiger, dem Gegenüber fälschlicherweise schlechte Absichten zu unterstellen, als ihn leutselig zu unterschätzen.
Dieser neurologische Schnellschuss verstellt leider Unternehmern, Führungskräften und anderen Gestaltern in Organisationen den Blick fürs Gestaltbare. Wenn man davon ausgeht, dass die Fähigkeiten des Unternehmens an den Motiven der Mitarbeitenden hängen, dann müssten die ja eigentlich nur mal richtig wollen! Und nicht selten hören sich die Motivationsappelle aus der Chef-Etage so an, als müsste man nur die Wichtigkeit der Zielerreichung betonen und endlich mal zur guten Zusammenarbeit aufrufen. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert.
Wenn man Organisationen als historische Netzwerke von kommunizierten Entscheidungen versteht, wirkt das erst einmal abstrakt und etwas alltagsfern. Diese Sichtweise eröffnet aber eine ganz andere Welt der möglichen Organisationsgestaltung. Dazu wird im Kopf eine zweite Erklärung für das Verhalten der Kollegen angelegt: Menschen verhalten sich entsprechend ihres situativen Kontexts.
Klar, Thomas aus der Nachbarabteilung hat vielleicht einen schlechten Tag oder ist ein komischer Eigenbrödler, dem Kooperation schwerfällt. Das kann sein. Es ist aber auch gut möglich, dass sich Thomas aus seiner Perspektive, in seinem situativen Kontext, sinnvoll verhält. Es könnte zum Beispiel sein, dass seine vom Chef vorgegebenen Ziele im Konflikt zu Deinen Zielen stehen. Wärst Du in seiner Rolle und Situation, würdest Du Dich vermutlich überraschend ähnlich verhalten.
Auch, wenn es immer individuelle Ausreißer gibt, ist es als Führungskraft praktisch, erst einmal davon auszugehen, dass sich Menschen in Organisationen aus ihren Perspektiven „sinnvoll“ verhalten. Ihr Verhalten spiegelt die Verhältnisse wider. Daher lohnt auch ein genauerer Blick auf die Verhältnisse, will man Veränderung erreichen.
1.2 Organisationale Fähigkeiten beobachten und besprechen
Vitale Organisationen zeichnen sich durch ihre beharrliche „Arbeit am System“ aus. Sie gehen davon aus, dass die meisten Herausforderungen in der Zusammenarbeit nicht an einzelnen Mitarbeitern liegen, sondern an den geschaffenen Verhältnissen. Denn: Verhältnisse schaffen Verhalten.
Jetzt sind die Begriffe „Verhältnisse“ und „System“ recht abstrakt. Die Kunst der Organisationsgestaltung besteht darin, die relevanten Verhältnisse in den Blick zu nehmen und zu verbessern. Je nach Umfeld gibt es dafür sehr unterschiedliche Formate – von der hemdsärmeligen Morgenrunde im Werk bis zum Organisations-Review in der Unternehmensleitung.
Der erste Schritt ist die Wahrnehmung eines möglichen Verbesserungsbedarfs oder einer unternehmerischen Gelegenheit. Wahrnehmung basiert auf der Anwendung von Kontrasten. Zum Beispiel dem Kontrast zur Vergangenheit („Letzten Monat hatten wir 55 Neukunden. Diesen Monat sind es 35.“) oder dem Kontrast zu einem Zielzustand („Wir wollen die Ausschussquote auf unter 10% drücken. Diesen Monat liegt sie bei 23%.“). Diese Kontraste können auch qualitativer Natur sein und z.B. die Kundenzufriedenheit oder die Teamstimmung betreffen. Oder die Neuartigkeit einer Kundenanfrage.
Will man die Eigenarten und die Fähigkeiten einer Organisation in den Blick nehmen, stellt sich die Frage, was man als Vergleichswert (Kontrastmittel) heranzieht. Ein Mitarbeiter, der seit Abschluss seiner Ausbildung vor 10 Jahren immer im selben Betrieb gearbeitet hat, nimmt nicht dieselben Eigenschaften einer Organisation wahr, wie ein Kollege, der erst sechs Monate an Bord ist und vorher schon fünf andere Unternehmen von innen gesehen hat. Deshalb können sich Besuche in anderen Betrieben und der Austausch mit Unternehmern und Experten aus anderen Firmen lohnen. Hier kann man sich Inspiration holen und diese als Kontrast für den Blick auf den eigenen Arbeitsalltag verwenden.
Eine weitere Herausforderung beim Besprechen der eigenen Organisation ist das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. In den meisten Unternehmen gibt es weder gut definierte Begriffe noch ein gemeinsames konzeptionelles Verständnis einer Organisation. Wenn einer „Strategie“, „agil“, „komplex“ oder „Führung“ sagt, kann man sicher sein, dass es im Raum mindestens fünf verschiedene Verständnisse dieser Begriffe gibt. Und die werden nur in Ausnahmefällen geklärt.
Dieser Artikel und die wachsenden Inhalte auf Vitale-Organisationen.de sollen einen Beitrag dazu leisten, die Fähigkeiten einer Organisation und die dahinter liegenden Mechanismen besser zu verstehen und gestalten zu können. Dazu bieten wir als effektives Kontrastmittel nützliche Begriffsdefinitionen und performante Organisationskonzepte. Hinzu kommen Inspirationen aus praktischen Beispielen unterschiedlichster Unternehmen.
Es gibt noch eine weitere, entscheidende Herausforderung, will man die eigene Organisation beobachten. Man nimmt leider kaum wahr, was man täglich unbewusst, ganz natürlich nutzt: Die Organisationskultur. Die Kultur hat als Summe der informellen Selbstverständlichkeiten einen enormen Einfluss auf Verhalten und Entscheidungen. Mitarbeiter spüren, welche Spielregeln gelten und was man lieber nicht oder nur im Verborgenen tut. Kulturelle Glaubenssätze können den individuellen Glaubensätzen der meisten Mitarbeitenden widersprechen und trotzdem wirkmächtig sein. Nicht selten gibt es auch ein paar Tabus, die öffentlich keiner aussprechen will, deren Bearbeitung aber Blockaden lösen könnten.
Was die Wahrnehmung der eigenen Kultur angeht, so lautet die Aufgabe im übertragenen Sinne: Man muss unter den Stein schauen, auf dem man steht. Mit einigen Mitteln kann man sich dem annähern. Man kann zum Beispiel neue Mitarbeitende bitten, Protokoll über alles zu führen, was ihnen in den ersten Monaten auffällt. Kunden, Ex-Kunden, Partner und Ex-Mitarbeitende können ebenfalls spannende Beobachtungen liefern. Aber eines ist sicher: es bleiben wichtige blinde Flecken. Bei diesem Aspekt der Beobachtung können gute externe Berater unterstützen. Die Beobachtung von Kulturmustern in den Dialog zu bringen, ist eine der wichtigsten Leistungen, die Organisationsberater erbringen können.
Um die Beobachtung von Organisationen und den Austausch darüber zu erleichtern, haben wir in den letzten Jahren die wichtigsten Fähigkeiten vitaler Organisationen zusammengetragen. Sie basieren sowohl auf wissenschaftlicher Organisationstheorie als auch auf unzähligen Analysen und Erfahrungen in unserer Beratertätigkeit.
1.3 Hauptfähigkeiten vitaler Organisationen
Über die Fähigkeiten einer Organisation nachzudenken und zu sprechen ist meist ungewohnt. Häufig wird angenommen, dass man einfach nur fähige, engagierte Mitarbeitende braucht, damit das Unternehmen gute Leistung erbringen kann. Leider entscheiden nicht die Mitarbeitenden, sondern die organisationalen Bedingungen darüber, wie leistungsstark oder -schwach ein Unternehmen ist. Die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens kann weit unter oder auch über der Summe der individuellen Fähigkeiten seiner Mitarbeitenden liegen.
Ein Beispiel: Viele kreative Mitarbeitende führen noch lange nicht zu einem innovativen Unternehmen. Ob die Organisation Entscheidungen produziert, welche aus den unzähligen Ideen der Mitarbeitenden am Ende begehrte, neuartige Produkte und Dienstleistungen schaffen, ist die entscheidende Frage. Oft werden Entscheidungen über Innovationen an falschen Stellen oder mit falschen Verfahren getroffen. Fehlende Innovation liegt mehrheitlich nicht daran, dass Mitarbeitende keine Ideen haben.
Ein weiteres Beispiel: Fehlende Geschwindigkeit oder Qualität liegt in der Regel nicht daran, dass das Unternehmen nicht die richtigen Mitarbeiter hat, sondern dass die Organisation mehr Tempo oder Sorgfalt verhindert, z.B. durch lange Entscheidungswege oder komplizierte Freigabeprozesse. Wenn man über organisationale Fähigkeiten spricht, sollte man diese nie mit den Fähigkeiten der Organisationsmitglieder verwechseln.
Nun zu den Hauptfähigkeiten vitaler Organisationen. Die hier vorgeschlagenen Kategorien dienen der Praxis der Organisationsgestaltung. Sie können von Unternehmern, Führungskräften, Organisationsentwicklern und anderen Gestaltern verwendet werden, um durch diese Brille auf die eigene Organisation zu schauen und die gewonnenen Beobachtungen zu diskutieren. Die beschriebenen Fähigkeiten vitaler Organisationen sind ein Kontrastmittel für die Selbstbeobachtung. Sie zeigen mögliche, funktionale Zustände auf, die man zum Vergleich heranziehen kann.
Vorher noch vier wichtige Hinweise.
Erstens, die Fähigkeiten sind nicht als Ablaufmodell zu verstehen, auch wenn manche Fähigkeiten einander bedingen oder einander voraussetzen. Sie können parallel betrachtet werden. Sie sind anwendbar auf alle Ebenen und Bereichen einer Organisation, abhängig davon, was man beobachten möchte.
Zweitens, die Beschreibung der Fähigkeiten kann genutzt werden, um einmal generell auf die Organisation zu schauen und ein Lagebild zu erstellen. Sie können aber auch verwendet werden, um einer Dysfunktionalität gezielt auf den Grund zu gehen.
Drittens, betrachtet man die eigene Organisation durch solch eine idealisierte Brille, findet man zwangsläufig Dysfunktionalitäten – häufig recht viele. Lass Dich daher bitte nicht entmutigen. Die perfekte Organisation gibt es nicht. Die Leitfrage für die Selbstbeobachtung kann lauten: „Welche der gefunden Dysfunktionalitäten ist der Engpass für die weitere Unternehmensentwicklung?“
Viertens, die Beschreibung der Fähigkeiten soll praktisch nutzbar sein. Daher sind die verwendeten Begriffe im Stil nicht alle einheitlich. Entscheidend ist für uns eine hohe Verständlichkeit im betrieblichen Umfeld. Auch geht es nicht um eine „vollständige“ Auflistung aller denkbaren Fähigkeiten, sondern eine Darstellung der aus unserer Sicht wichtigsten Fähigkeiten. Für eine akademische Diskussion hätten wir an vielen Stellen anderen Begriffe und Beschreibungen verwendet.
Die folgenden fünf Hauptfähigkeiten sind kurze Zusammenfassungen. Mit den Hyperlinks unter den Fähigkeiten gelangst Du auf Webseiten mit mehr Details, einschließlich einer Aufschlüsselung in weitere Unterfähigkeiten.
1. VERLÄSSLICHES INFORMATIONS- & ENTSCHEIDUNGSNETZWERK
Entscheidungen sind der Herzschlag einer Organisation. Sie müssen in einem stimmigen Rhythmus kommen und auf sinnvollen Informationen basieren.
In einer vitalen Organisation: Alle verfügen über zweckmäßige Informationsstände und es wird ein gemeinsames Verständnis der Lage gepflegt. Probleme werden offen besprochen und locken Menschen mit Ideen an. Konflikte dienen als Treibstoff für kluge Entscheidungen und Weiterentwicklung. Die Entscheidungen selbst werden in effektiven Verfahren von den Richtigen getroffen. Sie sind verbindlich und belastbar.
Vertiefung: Ausführliche Beschreibung mit 5 Unterfähigkeiten
2. VERTRAUENSVOLLES BEZIEHUNGSMANAGEMENT
Günstige Beziehungen zu unterschiedlichsten Akteuren und Umwelten versorgen Organisationen mit allem, was sie benötigen. Gleichzeitig müssen sie mit der Vielfalt an widersprüchlichen Anforderungen bewusst umgehen.
In einer vitalen Organisation: Die Mitarbeitenden handeln verantwortungsvoll und gestalten mit, ganz nach Bedarf und Talent. Es gibt schnelle Reaktionen auf Wettbewerb, technologischen Fortschritt und rechtliche Entwicklungen. Markt- und Gesellschafterinteressen werden ausbalanciert. Mit Kunden und Partnern kommen faire Deals zustande.
Vertiefung: Ausführliche Beschreibung mit 5 Unterfähigkeiten
3. DUALE WERTSCHÖPFUNG
An der Grenze zwischen komplizierten und komplexen Problemen eröffnet sich eine Welt differenzierter Wertschöpfung. Wissensbasierte Wertschöpfung erfährt Steuerung, Planung und Formalprozesse. Ideenbasierte Wertschöpfung folgt Führung, Taktik und echten Projekten.
In einer vitalen Organisation: Managementsystem, Organisationsstruktur und Führungsverhalten spiegeln die Dualität von wissensbasierter und ideenbasierter Wertschöpfung wider. Die Organisation tanzt mit der hohen Dynamik der Märkte und pflegt gleichzeitig die Effizienz ihrer Lösungen. Ergebnisorientierung zieht sich durch alle Ebenen.
Vertiefung: Ausführliche Beschreibung mit 4 Unterfähigkeiten
4. STRATEGIEFÄHIGKEIT
Die Strategie markiert die Grenzen des Spielfeldes. Sie gibt Richtung vor und liefert leitende Prinzipien für die kleinen und großen Entscheidungen. Sie ist Ausdruck unternehmerischen Handelns.
In einer vitalen Organisation: Investitionen werden unternehmerisch balanciert zwischen kurzfristigen Renditen und langfristigen Wetten. Aktuelle Wertschöpfungsstrategien werden profitabel umgesetzt, um die notwendigen Ergebnisse zu erwirtschaften. Parallel werden die Wertschöpfungsstrategien der Zukunft entwickelt, um den Wettbewerbern einen Schritt voraus zu sein.
Vertiefung: Ausführliche Beschreibung mit 3 Unterfähigkeiten
5. ORGANISATIONALES LERNEN & INNOVATION
Weiterentwicklung basiert auf einer aufmerksamen Umweltbeobachtung und einer unverblümten Selbstbeobachtung der Organisation. In einem bewussten Prozess werden neue Ideen konsequent verprobt und Gelerntes dauerhaft nutzbar gemacht.
In einer vitalen Organisation: Die Gestaltung der Organisation wird als eine zentrale Führungsaufgabe verstanden, insbesondere von der Unternehmensleitung. Es leitet die Überzeugung: Die richtigen Verhältnisse schaffen effektives Verhalten. Ideen werden von den kompetentesten Kollegen vorangetrieben, zugunsten kleiner Verbesserungen und bahnbrechender Innovationen. Die kontinuierliche Organisationsgestaltung geschieht wertschöpfungsorientiert, systematisch und iterativ.
Vertiefung: Ausführliche Beschreibung mit 4 Unterfähigkeiten
2. Veränderungsideen entwickeln und umsetzen
Will man die Fähigkeiten einer Organisation weiterentwickeln, muss man die Bedingungen verändern, in denen Entscheidungen getroffen werden. Welche konkrete Veränderung zu einem veränderten Entscheidungsverhalten führt, ist situativ und individuell, weil diese Veränderung immer in einer konkreten, historischen Organisation wirken muss.
In der Regel lohnt es sich, zwischen einem kommunikativen Problemraum und Lösungsraum zu unterscheiden. Oder klarer ausgedrückt: Bevor kein fundiertes Problemverständnis vorliegt, sollte keine Diskussion über Lösungen geführt werden – sei sie noch so verlockend. Unsere Gehirne lieben schnelle Lösungen und nicht unbedingt lange, mühsame Diagnosen. Das geht nicht nur Gehirnen so. Auch viele Unternehmenskulturen lieben scheinbare Instant-Lösungen – auch wenn sie nur Symptome lindern.
2.1 Problemverständnis vertiefen
Um organisationale Fähigkeiten weiterzuentwickeln, lohnt es, erst einmal zu klären, welches Problem die Umwelt anliefert, das die Organisation nicht ausreichend gut bearbeitet bekommt.
Ein Beispiel: Viele Kunden sind unzufrieden mit der Reaktionsgeschwindigkeit des Kundenservices. Sie fordern eine schnellere Aufnahme und Bearbeitung der Kundenanfragen. Ein Wettbewerber bekommt das besser hin und Kunden wechseln deshalb dorthin. Das ist aus Sicht des Unternehmens ein nicht ignorierbares Problem.
Generelle Forderungen, wie „Wir müssen beweglicher / agiler / kundenorientierter / unternehmerischer werden!“ sind zu abstrakt und laufen Gefahr, in ein großes Change Theater der Selbstbeschäftigung zu führen. Ausgangspunkt für die bewusste Veränderung organisationaler Fähigkeiten sollten extern angelieferte Probleme mit unternehmerischer Bedeutung sein. Diese Probleme können von Kunden, aber auch von anderen Absendern kommen, z.B. dem Gesetzgeber, dem Arbeitsmarkt, dem technologischen Fortschritt oder einem Gesellschafter des Unternehmens. Auch muss das Problem noch nicht akut sein. Es kann ein für die Zukunft prognostiziertes Problem sein, dessen Lösung aber heute schon eingeleitet werden muss.
Im betrieblichen Alltag gibt es unzählige Probleme, die gelöst werden, um Wertschöpfung zu betreiben. Zur Gestaltung organisationaler Fähigkeiten kommt es erst, wenn die Organisation aufgrund von Veränderungen nicht nur ein konkretes Problem gelöst hat, z.B. die Anfrage eines einzelnen Kunden wurde schneller bedient, sondern die Lösung generellen Charakter hat, z.B. Kundenanfragen werden dauerhaft 50% schneller bearbeitet.
Effektive Veränderungsideen basieren auf einem möglichst tiefen Verständnis des zu lösenden Problems. „Verständnis“ bedeutet hier nicht, dass man immer sicheres, vollständiges Wissen über die Wirkzusammenhänge hat. Manchmal hat man aufgrund der Komplexität nur eine theoretisch begründbare Hypothese.
Beispiel: „Nach der Diagnose der Problemsituation im Vertrieb kommen wir zu der Hypothese, dass die individuellen Provisionen die Zusammenarbeit behindern, weil diese als Anreiz zu individueller Optimierung wirken statt zur Steigerung des Gesamtergebnisses.“
Will man ein ungünstiges Verhalten in einer Organisation verändern, stellt sich die Frage nach den Stabilisatoren. Warum besteht das Problem so beständig? Warum löst es sich nicht über die Zeit von allein? Immerhin verändert sich eine Organisation ständig in vielen Details – teils gezielt, teils willkürlich. Das heute ungünstige Verhalten hat oder hatte mal eine Funktion. Was ist oder war diese Funktion? Auf welche Weise stabilisieren Strukturen, Praktiken oder Kultur das problematische Verhalten?
Ein wesentliches Werkzeug der Problemdiagnose ist die Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Problemanteilen, um die komplizierten möglichst mit Wissen (Regeln, Methoden, Prozesse) und die komplexen mit Ideen talentierter Menschen (Prinzipien, Werkzeuge, echte Projekte) bearbeiten zu können. Besonders spannend ist die kluge Kombination der zwei Lösungsarten.
2.2 Veränderungsideen entwickeln
Auf Basis des erarbeiteten Problemverständnisses werden Veränderungsideen entwickelt. Wirksame Veränderungen zu finden ist eine Kunst für sich, da eine Reihe von Faktoren berücksichtigt werden muss. Letztlich geht es darum, die Wahrscheinlichkeit für ein anderes Verhalten und andere Entscheidungsmuster zu erhöhen. Zugespitzt könnte man fragen: Was können wir jetzt entscheiden, das dazu führt, dass künftig Entscheidungen anders getroffen werden? Wie auch zu allen anderen Aspekten dieses Artikels kann hier nur eine kompakte Zusammenfassung folgen.
Erstens, eine Veränderungsidee braucht eine solide Wirkhypothese. Das Problemverständnis liefert Annahmen über sinnhafte Hintergründe und Stabilisatoren des aktuellen Verhaltens. Eine Veränderungsidee setzt da an und benötigt selbst eine theoretisch fundierte Annahme, warum sie wirken könnte.
Zweitens, die Veränderungsidee muss gestaltbar und damit entscheidbar sein. Häufig fordern Manager, dass wir einfach nur eine andere Kultur bräuchten. Ja, Kultur kann man sich wünschen, aber davon kommt sie nicht. Wer lautstark eine andere Kultur einfordert, verhindert möglicherweise genau diese.
Ein Beispiel: Man kann nicht über die Stimmung in einem Arbeitsmeeting entscheiden. Man kann sich nur eine offene, vertrauensvolle und energetische Stimmung wünschen. Wer in einem Meeting von den Teilnehmern Vertrauen und gute Laune einfordert, wird kaum Erfolg ernten, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Worüber man aber entscheiden kann: Wer teilnimmt, wie der Ablauf geplant ist, welchen inhaltlichen Fokus man setzen möchte, welche Moderationswerkzeuge verwendet werden und wer das Meeting moderiert. Ein Mensch mit Talent für produktive Meetings kann mit diesen entscheidbaren Faktoren ein Meeting gestalten, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit produktiv ist und eine passende Stimmung entwickelt.
Entscheidbar sind vor allem:
- Elemente der Aufbau- und Ablauforganisation
- Formale Spielregeln aller Art
- Besetzung von Positionen und formalen Rollen
Drittens, Ideen sind klebrig. Sie haften meist an dem Menschen, der die Idee hat. Diese Menschen nennen wir „Ideengeber“. Wenn man eine Idee beschreibt, entstehen bei den Zuhörern eigene Verständnisse und Gefühle davon, was der Ideengeber meinen könnte. Das „Übergeben“ einer Idee ist in der Praxis ein riskantes Unterfangen. Nicht selten beobachtet man erst im Laufe der Umsetzung, dass eine Person den Kern der Idee doch nicht so verstanden hat, wie der Ideengeber ihn meinte.
Manchmal gibt es einen Teil einer Idee, den man gut übergeben kann: den wissensbasierten Teil. Soll eine neue technische Lösung verprobt werden, die man komplett beschreiben und spezifizieren kann, ist es möglich, diese an andere für die Umsetzung zu übergeben. In der Praxis aber sind häufig viele Aspekte nicht im Voraus im Detail beschreibbar. Es geht darum, eine grobe Idee zu haben und diese dann in der Praxis weiterzuentwickeln und voran-zu-irren, bis eine stabile Lösung steht.
Wenn es um die Lösung komplexer Probleme geht, und das Entscheidungsverhalten der Kollegen gehört eindeutig dazu, sind Veränderungsideen nur unter Risiko zu übergeben. Die Überzeugung, eine gangbare Lösung im Sinn zu haben, basiert auf persönlichen Talenten. Aber genau diese individuelle Kombination an Talenten kann man nicht an Kollegen weiterreichen.
Daher lauten die zentralen Fragen bei der Lösung komplexer Probleme: WER hat Ideen? Wer glaubt, das Problem lösen zu können? Traut eine formal mächtige Person dem Ideengeber die Lösung des Problems zu und stattet ihn daher mit den nötigen Ressourcen und Möglichkeiten aus? Ideen ohne überzeugenden Umsetzer sind wertlos.
Viertens, die angedachten Veränderungen müssen im relevanten Bereich der Organisation resonieren. Nicht selten werden Veränderungsentscheidungen nicht ernst genommen und ausgesessen. Das ist das Schicksal vieler Change Programme. Die Veränderungsentscheidungen müssen als legitimiert erscheinen und als relevant eingestuft werden.
Fünftens, auch wenn sich jeder seine eigenen Geschichten von der Welt erzählt und man auch den Flurfunk im Unternehmen nicht steuern kann, lohnt es sich trotzdem, als Unternehmensleitung ein potenziell sinnstiftendes Narrativ anzubieten. Zu häufig unterschätzen Unternehmer die Funktion einer einordnenden Geschichte. Natürlich kann man Entscheidungen analytisch-sachlich begründen. Meist genügt das aber nicht, will man eine Richtung vermitteln und Veränderungen erklären. Es geht darum, die Geschichte des Unternehmens fortzuschreiben, und das gelingt besser mit wahrhaftigen und bedeutsamen Geschichten.
Welche Veränderungsidee letztlich verprobt werden soll, ist eine unternehmerische Entscheidung und bedarf gleichzeitig ein Talent für Organisationsentwicklung. Die Entscheidung muss von demjenigen getroffen werden, der seine formale Macht für die Umsetzung bereitstellt und unternehmerisch Verantwortung übernimmt. Fast immer ist es sinnvoll, sich vorher mit Kollegen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beraten.
2.3 Veränderungsideen verproben
Auf Basis der hoffentlich erfüllten Anforderungen aus dem Abschnitt 2.2 wird die Veränderungsidee verprobt. Dabei sind einige Aspekte zu berücksichtigen.
Erstens, die Form der Verprobung von Ideen kann sehr unterschiedlich sein. Die Varianz reicht von der Verwendung eines neuen Werkzeuges oder der Veränderung einer formalen Regelung bis zur Durchführung eines sogenannten Schutzraumprojekts mit einem exklusiven Umsetzungsteam. Wichtig ist, dass die Umsetzer eine ausreichend große Gestaltungsfreiheit haben, um eine effektive Lösung zu finden.
Zweitens, jede Verprobung benötigt Ressourcen, insbesondere in Form der richtigen Kollegen. Häufig scheitert das Verproben von Ideen daran, dass sie „on top“ verfolgt werden sollen. Dann entstehen nicht der nötige Fokus und das enge Zusammenspiel der involvierten Kollegen, mit dem Effekt, dass die Umsetzung im Alltag zerrieben wird oder auf der Strecke versandet. Die Kultur lernt: Hier sind Innovationen nicht gewollt oder haben keine Chance. In diesen Fällen scheint der erwartete unternehmerische Nutzen nicht sehr hoch zu sein – oder es mangelt an Managementkompetenz.
Drittens, weil man nicht sicher wissen kann, ob eine Veränderungsidee tatsächlich den gewünschten Effekt bringt, soll sie ja „verprobt“ werden. Das bedeutet, dass der Umfang der Verprobung groß genug sein muss, um den erhofften Effekt beobachten zu können. Häufig bedeutet das, dass die Verprobung eine wirtschaftlich relevante Größe erreichen muss, um ernst genommen zu werden; aber nicht so groß, dass das Unternehmen selbst gefährdet wird.
Viertens, „Verproben“ klingt nach Experiment. Und das ist es auch in dem Sinne, dass man über einen praktischen Versuch etwas lernen möchte. Gleichzeitig finden solche Experimente nicht in einem Chemie-Labor statt, das man nach einem Fehlversuch säubern kann, um unbeeinflusst von vorne zu beginnen. Verprobungen sind Experimente in einer lebenden Organisation mit einer Historie, die ständig fortgeschrieben wird. Ganz gleich, wie die Verprobung verläuft und welche Ergebnisse sie liefert, die Chancen stehen gut, dass die Organisation irgendwie beeinflusst wird. Daher ist es so wichtig, den Verprobungs-Charakter mitzuteilen und die Organisation an diese Form der Weiterentwicklung zu gewöhnen.
Das Vorgehen mag riskant wirken. Um Welten riskanter wäre es allerdings, größere organisationale Umbauten am Reisbrett zu planen und dann mit einem Big Bang „auszurollen“. Solche „Transformationen“ erscheinen vor allem dann notwendig, wenn man in den Jahren vorher nicht kontinuierlich und konsequent an der Organisation gearbeitet hat.
Fünftens, wenn eine bedeutsame Veränderung Fahrt aufnimmt, ist mit kulturellem Gegenwind zu rechnen. Immerhin wird die bisherige Art und Weise herausgefordert. Das kann in Form von fehlender Kooperationsbereitschaft, Entzug von Ressourcen oder anderer Arten der Behinderung geschehen. Jetzt ist der formale Entscheider aus der Unternehmensführung gefragt. Er muss mithilfe seiner formalen Macht und seiner Überzeugungskraft die weitere Verprobung vor dem kulturellen Widerstand schützen.
2.4 Umgang mit Frameworks und Methoden
An dieser Stelle kommt ein kleiner Einschub, um auf eine häufig beobachtete Gefahr einzugehen, wenn es um Organisationsgestaltung geht.
Die Gestaltung einer Organisation ist ein komplexes Unterfangen und daher mit großer Unsicherheit behaftet. Um diese Komplexität zu reduzieren, werden gerne „Frameworks“ und „Organisationsmodelle“ verwendet.
Das können Rahmenwerke für skaliertes, agiles Arbeiten sein oder Phasenmodelle für schnell wachsende Start-ups oder vermeintliche Kopien von formalen Organisationen erfolgreicher Unternehmen oder moralisch aufgeladene Konzepte der guten Zusammenarbeit. Ich nenne hier bewusst keine Namen. Sie wirken wie Erfolgsrezepte, die man nur umsetzen muss, weil sie durchdacht und praxiserprobt erscheinen. Kein Wunder, dass viele Berater sie gerne anbieten und Manager sie einfordern.
Man könnte nun fragen: Warum soll ich hier schrittweise Verbesserungen in der Organisation verproben, wenn es die Lösung doch schon fertig aufbereitet aus dem Regal gibt? Diese klassische Forderung nach Best Practice ist oft der erste Schritt ins Verderben.
Leider funktioniert Best Practice nur für komplizierte Probleme, wenn es also auf reproduzierbares Wissen ankommt; wenn man alle Bedingungen beherrscht und die relevanten Faktoren gestalten kann. Das ist maximal in technischen Systemen der Fall. Und selbst dort häufig nicht.
Als Berater dürfen wir immer wieder beim Aufräumen helfen, nachdem solche Modelle „eingeführt“ wurden. Die Flurschäden können immens sein, denn man missachtet, auf welche Weise die Organisation bisher ihre Stärken hervorgebracht hat. Die Organisation wird verwechselt mit ihrer formalen Seite. Ihre Historie und informelle Seite geraten unter die Räder – mit weitreichenden Folgen.
Ohne auf die einzelnen Modelle einzugehen, möchte ich zwei generelle Aspekte betonen.
Erstens, mit der Entscheidung für ein solches Modell kauft man sich unzählige Folge-Entscheidungen ein. Entscheidet man sich für die Einführung des Modells „Organizational Super Scaling, Version 11.7“ (kurz OSS 117), um mal einen Namen zu erfinden, kommt man nicht mehr daran vorbei, die Teamstrukturen, Managementrollen, Meetingformate und Entscheidungsverfahren auch entsprechend anzupassen. Mit der Entscheidung für OSS 117 hat man sich für ein Paket weitreichender Entscheidungen entschieden, das in Form hunderter Einzelentscheidungen sicherlich nicht so getroffen worden wäre. Man könnte sagen, solche Modelle können tiefgreifende Einschnitte im ersten Schritt wahrscheinlicher machen, weil sie Komplexität reduzieren. Allerdings kann die Folgen dieser ganzen Folge-Entscheidungen niemand mehr seriös einschätzen.
Zweitens, deshalb ist die entscheidende Frage: In welcher Weise wird ein solches Modell verwendet – als Methode oder als Werkzeug?
Methode bedeutet, dass das Modell wie ein Kochrezept verfolgt wird. Das Versprechen: Der Erfolg kommt, wenn man das Modell nur genau umgesetzt. Man versucht, möglichst viele Herausforderungen mit formalen Lösungen zu bewältigen und unterschätzt die Funktion der ungeregelten Wertschöpfung. Dann kann das Modell schnell zum Selbstzweck werden und verstellt dem Management den Blick auf die tatsächliche Organisation und ihre Eigenarten und Fähigkeiten.
Werkzeug bedeutet, dass das Modell von talentierten Organisationsgestaltern nur als Anregung genutzt wird. Sie lassen sich von den Elementen und den Wechselwirkungen im Modell inspirieren, um weiterhin frei über sinnvolle Vorgehensweisen für die eigene Organisation zu entscheiden. Dabei beobachten sie kontinuierlich die Reaktionen und Anpassungen in der Organisation.
3. Erkenntnisse reflektieren und verankern
Mit jeder Entscheidung zur Verprobung von Verbesserungen und Innovationen wird auch die Form der Bewertung bestimmt. Das sorgt für Klarheit, welche Effekte man im Erfolgsfall erwartet. Dabei kann es sich um sinnvolle Kennzahlen oder auch qualitative Aspekte handeln, die von vorher bestimmten Personen beurteilt werden, z.B. von Kunden, Nutzern und verantwortlichen Personen.
Je nach Erfolg und Erkenntnissen kann für das weitere Vorgehen eine der folgenden Entscheidungen getroffen werden.
Behalten: Die verprobte Lösung wird im aktuellen Bereich der Organisation weiter betrieben, weil sie überzeugt hat.
Etablieren: Die verprobte Lösung wird in anderen Bereichen der Organisation ebenfalls etabliert. Dazu müssen ggf. Aufwände, Zeitraum und Ressourcen für die Integration eingeschätzt werden. Diese Vorgehensweise setzt eine hohe Zuversicht voraus, dass die gefundene Lösung in allen Anwendungsgebieten zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Das ist insbesondere bei nicht-technischen Lösungen fraglich.
Inspirieren: Die verprobte Lösung wird in der Organisation vorgestellt und eingeladen, sie freiwillig als Anregung zu nutzen, ggf. im eigenen Bereich Verbesserungen zu verproben. Der Vorteil: Verantwortliche Umsetzer in den Anwendungsgebieten entscheiden selbst, ob die Lösung dort auch passt oder sie ggf. modifiziert werden muss.
Ändern: Wenn die Lösung noch nicht überzeugt, aber Potenzial für die Verprobung von Varianten oder von neuen Ideen gesehen wird, kann eine neue Verprobung vorbereitet werden.
Verwerfen: Die Lösung überzeugt nicht und soll aber auch nicht weiterverfolgt werden. Das passiert vor allem dann, wenn sich die Prioritäten verändert haben oder alle weiteren Lösungsideen nicht überzeugen und weitere Investitionen nicht sinnvoll erscheinen.
Neben der Bewertung der verprobten Lösung findet auch eine Reflexion zum Vorgehen statt. Wie verlief die Verprobung? Was war hilfreich? Was hinderlich? Was hätte geholfen? Gibt es interessante Beobachtungen über die Reaktion der Organisation oder der Nutzer?
Zum organisationalen Lernprozess gehört auch, Erkenntnisse und Erfolge breit zu teilen und möglichst erlebbar zu gestalten, damit die Organisation lernt, dass sie Fähigkeiten hat, die sie sich bisher gar nicht zugeschrieben hatte. Auf diese Weise aktualisiert sich das Bild, das die Organisation von sich selbst hat. Dieses Teilen kann schon während der Verprobung geschehen, oder erst nach dem Abschluss.
Fazit: Plädoyer für ein systematisches und pragmatisches Vorgehen
Organisationsgestaltung kann prinzipiell auf allen Ebenen der Organisation stattfinden. Gleichzeitig ist es eine zentrale Aufgabe der Unternehmensleitung. Hier bündeln sich formale Macht und unternehmerische Verantwortung.
Viele Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit können nur auf Basis von Entscheidungen von ganz oben verändert werden. Die Organisationsgestaltung als vierte Ebene der Unternehmensführung ist, neben Selbstführung, Mitarbeiterführung und Teamführung, von zentraler Bedeutung für den Erfolg.
Damit das gelingt, wird ein konsequent systematisches und gleichzeitig ein hemdsärmlig pragmatisches Vorgehen benötigt. Die Systematik sichert die Effektivität ab und das Pragmatische sorgt für zügiges Tempo.
Aus unzähligen Beratungsprojekten wissen wir, wie effektiv die organisationale Führungsarbeit ist, aber auch, vor welchen Hürden viele Geschäftsführungen und Vorstände stehen – sowohl individuell als auch als Gremien. Neben methodischem Input wird Übung und Feedback benötigt, um eine systematische und zugleich pragmatische Arbeitsweise für die Organisationsgestaltung zu etablieren. Dieser Prozess kann herausfordernd, kann aber auch sehr bereichernd und befreiend sein.
Der Vorteil dieser bewussten Etablierung organisationaler Führungsarbeit: Es wird sofort an den echten Problemen der Organisation gearbeitet. So entsteht ein Doppelnutzen: die Weiterentwicklung der Unternehmensführung und die Stärkung der vitalen Organisation.
Hinweise zum Hintergrund
Die Inhalte dieses Artikels basieren auf dem Vital Capabilities Model der Organeers GmbH. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, die Fähigkeiten vitaler Organisationen zu strukturieren. Aus unserer praktischen Erfahrung heraus hat sich diese Zusammenstellung jedoch als besonders nützlich erwiesen.
Wir haben bewusst klare und einfache Begriffe sowie Beschreibungen gewählt, um die Inhalte leicht verständlich zu machen. Für eine tiefere und präzisere Auseinandersetzung laden wir gerne zu einem persönlichen Gespräch ein.