Die Verantwortungs­lücke zwischen Unter­nehmer und Personal­management

Warum sich niemand um die Organisationsentwicklung kümmert

Von Philipp Simanek
In vielen Organisationen gibt es eine Verantwortungslücke zwischen Unternehmer und Personal­management, die eine echte Gefahr für die Unternehmensentwicklung darstellt.
„Die Verantwortungs­lücke zwischen Unter­nehmer und Personal­management“ von Philipp Simanek auf Vitale-Organisationen.de

Immer mehr Unternehmer erkennen, dass ihr Erfolg nicht nur von engagierten Mitarbeitenden abhängt, sondern auch davon, wie das Unternehmen organisiert ist. Besonders in dynamischen Märkten reicht es nicht mehr, sich auf bewährte Methoden zu verlassen. Stattdessen müssen die Strukturen der Zusammenarbeit so angepasst werden, dass neue Lösungen schneller entstehen.

Doch hier beginnt das Problem: Wer kümmert sich darum?

Es geht nicht nur darum, Organigramme zu überarbeiten oder ein paar Positionen neu zu besetzen. Vielmehr müssen die „Spielregeln“ verändert werden – also wie Informationen fließen, wie Entscheidungen getroffen werden und wie Teams zusammenarbeiten.

Diese „Arbeit am System“, oder auch Organisationsentwicklung genannt, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es müssen im laufenden Betrieb Veränderungen an Strukturen, Prozessen und Praktiken so vorgenommen werden, dass man eine effektivere Art der Zusammenarbeit erreicht. Dabei erlebt man hautnah die unberechenbaren Auswirkungen der Komplexität von Organisation und Kultur.

Wer kümmert sich in Unternehmen um diese zukunftssichernde Aufgabe? Im Zweifel niemand.

Warum Unternehmer die Organisationsentwicklung oft vernachlässigen

Unternehmer sind meist voll damit beschäftigt, das Tagesgeschäft am Laufen zu halten und Innovationen voranzutreiben. Sie sorgen dafür, dass das Unternehmen heute funktioniert – und idealerweise auch morgen noch wettbewerbsfähig ist.

Doch die Frage, wie genau Wertschöpfung und Innovation organisiert sind, wird selten gestellt. Viele Unternehmer verlassen sich darauf, dass ihre bisherigen Methoden funktioniert haben – also warum daran rütteln? Veränderungen bedeuten schließlich auch Risiken.

Davon abgesehen liegt folgender Gedanke nahe: „Dafür habe ich doch das Personalmanagement! Es geht ja schließlich um die Mitarbeiter. Meine Personalleiterin wird sich bestimmt darum kümmern.

Doch genau hier entsteht eine große Verantwortungslücke.

Warum das Personalmanagement nicht übernimmt

Im Personalmanagement wird durchaus ein Handlungsbedarf gesehen. Und dass der Handlungsbedarf etwas mit Organisation und Kultur zu tun hat, scheint auch klar zu sein. Immerhin rollt seit einiger Zeit eine Umbenennungswelle. Aus Personalleitern werden oft Head of People & Culture oder VP People & Organisation.

Das erinnert an die letzte Welle, in der aus Personalreferenten über Nacht HR Business Partner wurden, ohne dass sich etwas Wesentliches geändert hat. Der erhoffte Sprung an Einfluss und Ansehen im Unternehmen blieb aus. Der Anspruch, mehr zum strategischen Erfolg beizutragen, blieb meist unerfüllt.

Die Gefahr ist groß, dass sich dieses Muster wiederholt. Zwar steckt in der aktuellen Lage eine große Gelegenheit für das umbenannte Personalmanagement, aber dazu müsste es sich in wesentlichen Teilen neu erfinden. Alle Aktivitäten jenseits von Gehaltsabrechnung und Personalverwaltung müssten nach Prinzipien moderner Organisationstheorie durchleuchtet und angepasst werden.

Mal abgesehen von den eigenen blinden Flecken und der Herausforderung, die bisherige Arbeit infrage zu stellen, fehlt es fast überall an Expertise im Umgang mit Organisation und Kultur. Der Blick des Personalmanagements war ewig auf Individuen gerichtet, nicht auf Teamstrukturen, Organisationsprinzipien und Marktdynamiken. Daher finden sich als akademische Wurzeln in der HR-Arbeit vor allem Psychologie und Jura. Eine wertschöpfungsorientierte, systemtheoretische, soziologische Perspektive ist immer noch die Ausnahme.

Neben der fehlenden Qualifikation besteht häufig, trotz aller Bemühungen, eine große Distanz zur Wertschöpfung. Konkret wird es nur, wenn Jobprofile definiert werden. Aber tiefer in die Probleme der Wertschöpfung und damit in die Formen der Zusammenarbeit steigen die meisten Personalmanager nicht ein. Und so sind die HR-Initiativen rund um „New Work“ oder „Agilität“ meist irgendwie generell und abstrakt, manchmal auch recht verspielt. Unmittelbare Wertschöpfungs- oder Innovationsprobleme lösen sie nicht – und bleiben damit letztlich irrelevant.

Wenn es aber um die Organisation von Wertschöpfung und Innovation geht, ist das Personalmanagement, abgesehen von der Personalbeschaffung (schlimmes Wort!), kaum involviert. Nicht selten werden Personaler erst über Reorganisationen informiert, wenn diese längst beschlossen sind. Das Personalmanagement holt man dann dazu, damit es schwierige Aufgaben in der Umsetzung übernimmt. Ein gemeinsames Suchen nach neuen, effektiveren Spielregeln im System der Zusammenarbeit ist die totale Ausnahme.

Für Personaler liegt folgender Gedanke nahe: „Wir können generelles Wissen über moderne Arbeitsweisen zur Verfügung stellen und unsere Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen dazu in Veranstaltungen vernetzen. Aber wenn es um die konkrete Problemlösung geht, übernehmen das die Linienmanager. Da können wir kaum mitreden. Und letztlich entscheidet ohnehin der Unternehmer, der sich mit modernen Arbeitsweisen irgendwie schwertut.“

Die Verantwortungs­lücke in der Organisations­entwicklung

Die Gefahr ist groß, dass Unternehmer und Personaler meinen, der Ball liege jeweils im Feld des anderen und von dort müsse der Anstoß erfolgen. Tatsächlich liegt der Ball in der Mitte. Für die bewusste Gestaltung der Organisation werden die Aufmerksamkeit, Macht und Investitionsbereitschaft des Unternehmers benötigt. Ohne ihn geht es nicht. Gleichzeitig spielt das Personalmanagement als Lieferant und Bewahrer vieler Praktiken eine zentrale Rolle, z.B. Zielsystem, Entgeltsystem, Hierarchielogik, Bewertungs- und Feedbacksysteme, Entwicklungsprogramme oder Führungswerkzeuge, um nur ein paar zu nennen.

Wenn Unternehmer und Personaler gemeinsam „am System arbeiten“ wollen, setzt das eine Überarbeitung ihrer Rollen voraus. Der Unternehmer muss neben Wertschöpfung und Innovation auch die Organisationsentwicklung als zentrale Aufgabe annehmen.

Die betroffenen Personaler müssen eine fundierte Expertise zu sozialen Systemen und Organisationsprinzipien aufbauen. Natürlich ist es sehr hilfreich, wenn auch der Unternehmer seine Kenntnisse in diesem Feld vertieft. Aber da er meist weniger Zeit in den eigenen Kompetenzaufbau investiert oder möglicherweise seine Talente in anderen Feldern liegen, hilft es, vertraute Menschen mit tiefer Expertise an seiner Seite zu haben.

Die Rolle des Personalmanagements als Mit-Gestalter der Organisation bedarf nicht nur passender Qualifikation, sondern auch eines ausgeprägten Selbstbewusstseins. Man ist in dieser Rolle kein Dienstleister für die Unternehmensleitung oder das Linienmanagement. Es geht nicht darum, deren Wünsche zu erfüllen, sondern neue Arbeitsweisen zu erproben, also im Sinne der organisationalen Leistungsfähigkeit zu handeln – und damit auch den kulturellen Gegenwind auszuhalten. Ein Grund mehr, warum das nur gemeinsam mit dem Unternehmer gelingen kann.

Kleines Fazit

Das Personalmanagement hat aktuell die Gelegenheit, sich um die wichtige Funktion der Organisationsentwicklung zu erweitern. Wobei „erweitern“ nicht ganz stimmt. Tatsächlich geht es neben dem Aufbau von Expertise darum, viele liebgewonnene HR-Praktiken aufzugeben, um ein wertschöpfungsorientiertes, neues Selbst-Verständnis umsetzen zu können. Der Nutzen für das Unternehmen wird sich darüber schnell einstellen und die gemeinsame Arbeit mit dem Unternehmer am System kann beginnen.

Nachwort

Jedes Unternehmen ist anders und ich möchte in diesem Artikel kein Urteil über die wertvolle Arbeit von Unternehmern und Personalern fällen. In diesem Artikel beschreibe ich lediglich die typischen Muster in mittelständischen Unternehmen mit eher klassisch aufgestelltem Personalmanagement, wie ich sie seit Jahren beobachte. Wenn das auf Dein Unternehmen gar nicht zutrifft, freue ich mich.

Zuletzt geändert 04. Februar 2025
Philipp Simanek

Philipp Simanek ist Mitgründer der Organeers GmbH und berät Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Weiterentwicklung ihrer Organisationen. Philipp ist ein erfahrener Praktiker, wenn es um Führung, Organisation, betriebliches Lernen und Personalmanagement geht.

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